about POLWECHSEL

 

 

POLWECHSEL – Kein Gleichstrom mit der Masse


„Polwechsel“ – nom trouvé einer ursprünglich rein österreichischen Musikerformation. Sie setzt seit knapp 15 Jahren markante Statements und neue Maßstäbe in den Grenzregionen zwischen Komposition und Improvisation, Interpretation und Neukonzeption, Analogem und Digital-Elektronischem, live Produziertem und live Prozessiertem, zwischen reduktiver Ästhetik und der ganzen Bandbreite des zur Verfügung stehenden Vokabulars. Entdeckt auf einem Frequenzmesser, System Hartmann-Kempf für zwei Stromkreise, weist der Name über seinen (elektro-)technischen Ursprung hinaus auf ein assoziativ weites Feld: Umpolung, Perspektivenwende, Kehrtwendung …: upside-down; Schubumkehr, Positionswechsel, Neulandnahme …: unbeugsames Extrem ...; entweder-oder: Polwechsel.


Anfang der 90er Jahre – genau genommen 1993, gerade zum Zeitpunkt des startenden Höhenflugs der Wiener Impro- und Elektronikszene, die auch mit Musikern wie Christof Kurzmann oder Christian Fennesz und Formationen wie Shabotinski oder Diphtongs aufhorchen ließ und bald internationale Relevanz erreichte – nahmen Kontrabassist Werner Dafeldecker, Cellist Michael Moser, Gitarrist Burkhard Stangl und Posaunist Radu Malfatti also einen ersten „Polwechsel“ in Bezug auf bestehende ästhetische Wertigkeiten und musikalische Ansatzpunkte vor. Obwohl mit Dafeldecker, Stangl und Malfatti (Michael Moser kommt von einem klassisch-zeitgenössischen Background) drei von ihnen auch jazzsozialisiert waren, ging es Polwechsel nicht mehr länger etwa um gängige Parameter des Free-Jazz (um Intensität, Spontaneität, Solistisch-Emphatisches im Gruppengefüge u. a. m.) oder der freien Improvisation, sondern vielmehr um eine strenge, genaue Beschäftigung mit Klang, seiner Produktion und Materialität, Textur und Tragfähigkeit, und in der Folge seiner Strukturierung und (Re-)Kontextualisierung.

Bereits mit ihrer erste CD (schlicht Polwechsel 1 genannt, 1993/94 aufgenommen, 1995 auf Georg Gräwes Random Acoustics, Jahre später auch auf dem größeren Schweizer Qualitätslabel Hat Hut / Hat[now]ART 112 erschienen) gelang ihnen ein wesentlicher Beitrag in der Diskussion über neuen Reduktionismus, Strategien der Klanglichkeit und deren Strukturierung.

Vor allem Michael Moser und Werner Dafeldecker standen und stehen dabei bis heute hinter den nahezu allen Polwechsel-Aktivitäten zugrunde liegenden Kompositionen: Diese überwinden in Genese und auch im Resultat den klassischen Kompositionsbegriff, beziehen sie doch die Fähigkeiten, Verhaltensweisen und individuell entwickelten „Sounds“ der „Interpreten“ stark in ihr Konzept mit ein und definieren letztere auch als aktiv mitbestimmende Realisatoren bzw. Träger der „Partitur“. So entstanden Kompositionen u. a. in Form von Struktur- und Zeitablaufplänen, als Vorgabe von Modulen und Materialdefinitionen, als architektonische Klanganordnungen oder Settings, die eine Klammer zwischen neuer improvisierter und komponierter Musik schaffen.

Die trotz dieser Offenheit bestehende Präzision der Kompositionen spiegelt sich dabei auch in der Präzision der instrumentalen Fähigkeiten der Polwechsel-Musiker und ihrer spezifischen Klang- und Materialentwicklungen wieder. Dafeldecker: „Die kompositorische Entscheidung ist, sich für einen Klang aufgrund des Vertrauens in ihn zu entscheiden: Hält der Klang durch, hat er genug Kraft, über längere Strecken in verschiedenen Kontexten eingesetzt werden zu können. Die Inspirationsquelle ist der Klang. Dann kommt die Ebene: Wie weit kann man einen Klang strapazieren, was kann man alles damit machen, in welchen Kontext kann man ihn auf welche Weise stellen.“ Mit extremer Ökonomie und Schärfe werden also Sounds entwickelt, definiert, miteinander in Beziehung gesetzt, kontrastiert und in eine Struktur und einen zeitlichen Ablauf gebracht.
Die Kunst und Qualität von Polwechsel bestand dabei von Beginn an nicht zuletzt darin, Spannung und Konzentration trotz Reduktion, Abstraktion und einer oftmals „dichten Ereignislosigkeit“ zu wahren und mittels Introspektion punktgenau zum Kern der Sache, dem Klang und seiner potentiellen Semantik zu dringen. Nur wenige historische Referenzpunkte lassen sich dafür – vor allem auch im Sinne eines qualitativen Vergleichs – heranziehen: Gruppo di Improvvisatione Nuova Consonanza vielleicht, oder die ebenso legendäre britische Formation AMM. Mit ihrem Pianisten, John Tilbury, startete Polwechsel übrigens beim Berliner Festival MaerzMusik 2007 eine zukunftsträchtige Zusammenarbeit, die sich auch auf einer für 2008 geplanten neuen CD-Veröffentlichung auf Hat Hut nachhören lassen wird.

Was Anfang der 90er Jahre vorerst rein akustisch begonnen hat, wird von Polwechsel bald auch elektronisch (computer/electronics) ausgelotet und fortgeführt und in der Entwicklung aktueller elektroakustischer Improvisation und Komposition Position bezogen. „Polwechsel 2“ mit Aufnahmen aus 1998, 1999 von Hat Hut / Hat[now]ART 119 veröffentlicht, dokumentiert bereits diesen Wendepunkt und listet auch den britischen Tenor- und Sopransaxophonisten John Butcher als neues Mitglied der Formation auf – Butcher ist seines Zeichens einer der führenden freien Improvisatoren Englands und für seinen vielgestaltig individuellen Saxophonsound ebenso bekannt wie für seine Arbeit mit Live-Elektronik, Verstärkung und Feedback.
2002 folgt auf die bei Durian erschienene CD „Polwechsel 3“ konsequenterweise „wrapped island“ auf erstwhile records, eine Zusammenarbeit von Polwechsel mit Christian Fennesz. Fennesz galt zu diesem Zeitpunkt (nicht zuletzt durch Veröffentlichungen wie „Endless Summer“, 2001) bereits als einer der international führenden und bis heute meist gefragten Exporte der (Wiener) Elektronik-Szene. Hatte Polwechsel davor mit seinem musikalischen Konzept Barrieren u. a. in der zeitgenössischen neuen Musik aufgebrochen – und in gewissem Sinne auch aus anderer Perspektive betrachtet zu ihr aufgebaut – so machte das Quartett auch vor einer Auseinandersetzung mit dem dazumal noch Mego-label-alliierten Laptop-Wizard und einer aktuellen Elektronikszene jenseits der elektronischen Neuen-Musik-Studios nicht halt. „Integration ohne Assimilation, gelungene mutualistische Symbiose“ schrieb Tobias Bolt (skug 2003) über diese „Mesailliance“ wahrlich besseren Wissens, bei der Polwechsel auch erstmals auf ein strenges kompositorisches Konzept verzichtete. „Verhüllte Insel“ – wie bei Arbeiten von Christo und Jeanne-Claude steigert Verhüllung den Attraktionswert des Versteckten, nicht offen Sichtbaren, nicht Offensichtlichen; verlangt einen geschärften Blick, der hinter die Oberfläche zu dringen versteht und Bedeutung zu enthüllen vermag. So hakt der CD-Titel wiederum bei einer prinzipiellen Strategie Polwechsels ein – Aufmerksamkeit und Konzentration auf das Wesentliche zu lenken, auf Oberfläche und redundante Fülle als Leerlauf zu verzichten. Und dies tut auch „wrapped island“, selbst wenn die Musik in Feedback-Schleifen gelegt im gesamten üppiger, fließender erklingen mag als vorhergehende Produktionen und phasenweise sogar melodische Spurenelemente aufweist.

„wrapped island“: Eine Vorahnung auf einen erneuten „Polwechsel“? In gewissen Sinne ja. Auch die folgende und bislang letzte veröffentlichte CD trägt einen durchaus assoziativen „Polwechsel“-Titel und rückt von der kühl-objektiven Nummerierung „Polwechsel 1-3“ ab. „Archives of the North“ (2006, Hat Hut, nunmehr Serie hatOLOGY 633) tritt darüber hinaus auch in neuer Besetzung auf: Weiterhin Michael Moser und Werner Dafeldecker sowie John Butcher als inzwischen bereits langjähriges Mitglied, neu dazu mit Burkhard Beins und Martin Brandlmayr zwei Perkussionisten, die mit Formationen wie Perlonex oder radian selbst höchst aktiv im musikalischen Kunstkontext arbeiten. Die Musik also? Michael Moser: "Wir haben uns zwar gegen das Label [„Neue Reduktion“] gewehrt, aber zum Teil sicher sehr reduzierte Stücke gemacht. Irgendwann kommt man an einen Punkt, an dem man sagt: Weiter zu reduzieren hieße, mit dem Spielen aufzuhören. Deshalb haben wir seit Jahren darüber geredet, die Musik in eine andere Richtung zu entwickeln." Diese ist weiterhin als die der Forscher, Feinmotoriker und strengen Denker und Konzeptionalisten, als Polwechsel, zu erkennen, auch wenn sie sich nunmehr klangsinnlicher, flirrender entwickelt und auch stark mit räumlichen (Klang-)Aspekten und -wirkungen arbeitet. Dazu kommen Kompositionskonzeptionen, die interaktive Live-processing-Settings implizieren, was sowohl das Spielen für Polwechsel selbst wie auch die Rezeption zu einem zusätzlich extrem spannenden Live-Experiment macht. Einmal mehr hat Polwechsel damit einen potentiellen eigenen oder generellen musikalischen Stillstand frühzeitig in eine Spannungsumlegung lenken können.

Kein Gleichstrom mit der Masse. Neuland zwischen veralteten Fronten.

Ute Pinter

 

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Of all music, it was difficult to foresee that free improvisation, traditionally the music of abundance––indeed even of excess––could become the main setting for reductive strategies. After all, historical ensembles such as Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza and AMM, both products of the sixties’ (counter) culture, had already demonstrated the aesthetic fruitfulness of reductive approaches to real-time music, decades earlier. But they remained secondary voices in the concerto of improvisational emancipation, drowned out by high-powered, vociferous free jazz. In the nineties, however, two things came together in improvised music: a rediscovery of those ignored voices; and an intense, renewed reception of contemporary composed music’s soundworld—in particular, the reductive approaches of Morton Feldman and Giacinto Scelsi, but also the rich noise-world of Helmut Lachenmann’s scores.

Peter Niklas Wilson

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